Sagenhafte Stadt

Die Sage von der Linde auf dem Kirchhof

Die Sage von der Linde auf dem Kirchhof

Der Görlitzer Rat hatte es immer mit dem Hängen eilig, wollte er den Feinden seine Macht recht deutlich zeigen. Das musste auch der junge Knappe eines Raubritters an sich erfahren, den die Stadtknechte ergriffen hatten. Er bestritt entschieden, an der Wegelagerei beteiligt gewesen zu sein. Auch die üblich Folter mit "Daumen-schrauben" erzwang kein Geständnis. Dennoch kam es zum Todesurteil. Eine letzte Bitte nur wurde ihm erfüllt. Auf dem Wege zum Galgen durfte er das Grab seiner Eltern auf dem Nikolaifriedhofe noch einmal sehen. Dankbar und traurig dachte er daran, welche Hoffnungen Vater und Mutter einst in den Heranwachsenden gesetzt hatten. Schwer bedrückte es ihn, dass er so jung und ohne Schuld sein Leben verlieren sollte. Auf dem Grab wuchs ein Lindenbäumchen. Das zog er mit den Wurzeln heraus und pflanzte es umgekehrt wieder ein. Die Wurzeln standen nun nach oben, die belaubte Zweige aber fanden in der Erde Halt. Zu den Henkersknechten, die erstaunt zugesehen hatten, sagte er: "So wie dieses Bäumchen aus den Wurzeln Zweige und aus den Zweigen Wurzeln treiben wird, so gewiss werde ich unschuldig hingerichtet." Tatsächlich wuchs das Bäumchen mit den Jahren kräftig heran. Die Henker waren längst vermodert und vergessen. Das dichte Laub der Linde auf dem Friedhofe bezeugte, dass Wahrheit bleibt, was Wahrheit ist.
Überliefert ist auch ein anderer Ursprung des merkwürdigen Baumes. Danach wurde der Pfarrer Martin Moller, Primarius an der Peterskirche, gegen Ende des 16. Jahrhunderts von streitbaren Amtsbrüdern beschuldigt, er verbreite Gottes Wort nicht so, wie es der Doktor Luther gewünscht habe. Manchen von ihnen überragte Moller an Bildung und menschlicher Güte, und dass er gar schlichte, volkstümliche Kirchenlieder dichtete, mochte ihn erst recht im Zwielicht erscheinen lassen. Schon äußerten unduldsame Eiferer den schrecklichen Verdacht, Moller sei heimlicher Anhänger der verpönten Irrlehre des "Crypto-Calvinismus". Die Schmähreden gegen den angeblichen Abweichler fanden bei den wundergläubigen, ungebildeten Schäflein seiner Gemeinde gewiss auch offene Ohren. Der hochbetagte und inzwischen erblindete Moller aber ließ sich nicht beirren und ertrug gefasst alle üble Nachrede. Als er im Tode lag, bat er seine Angehörigen: "Wenn ich gestorben bin, pflanzt auf mein Grab eine junge Linde mit den Zweigen in die Erde! So gewiss, wie die Linde wachsen wird, habe ich Gottes Wort unverfälscht gelehrt." Seine Voraussage erfüllte sich.

Text: Dr. Ernst Kretzschmar

Quelle: Robert-Scholz-Archiv

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